Lesung in Northeim 2011

Nur die prägnante Kürze ist nachdrücklich.

Georg Friedrich Creuzer
(1771-1858)


Foto: Berni Patten, Köln


Einladung zur Gedicht-Lesung

in der "Donnerstagsgesellschaft" am 14. Juno 2012
im Hotel Schere (Heinrich-Heine-Zimmer)


Einstieg in die Lesung

Der runde Tisch

der gewichtige
hier und heute
der Menschen einlädt
sie festhält sie motiviert
zum Gespräch dem wachen
dem weitertreibenden
in hellhöriger Runde


Der andere Stundenschlag

der geheime
von Wort zu Wort
von Zeile zu Zeile
von Gedicht zu Gedicht
von Tag zu Tag
von Jahr zu Jahr
der andere Stundenschlag
der geheime
der dich anhalten lässt
mitten im Stundenschlag
dahineilender Zeit


Gedichte

wie Zugvögel
dich mitzuziehen
zum Flug
in andere Zonen


Wohnen

wo der Wind Worte sät
zum Leben
wo pulsierender Herzschlag ist
wohnen
wo Hoffnung aufblitzt
in Metaphern
wo Sprache Atem schenkt
zu befreitem Sein


Der Eulenblick

der erhellende bei Nacht
der wache  zu erspähen
die Dinge im Dunkel
zu prüfen was sich lohnt
einzufangen    blickgenau


Wie denn

wenn Worte
Welten schaffen
wenn Worte
zu Bausteinen werden
neuer Welten
ohne Zwietracht
ohne Kleinmut ohne Übermut
Welten für den ortlosen Menschen
sicherer zu gehen unter der Sonne
leichter zu werden unter dem Wort


Mein Teppich Poesie

gewachsen aus Worten
Bild um Bild eingelassen
in ein buntes Ganzes
Gedanken wie Lichtspuren
aufzuhellen den Boden
unter den Füßen


Könnte ich

die Hoffnung halten
eh sie den Bach hinuntergeht
die Träume retten
eh sie davonschwimmen
den Mut verankern
eh er zerbricht
könnte ich ankommen
eh ich fortgehe


Gedanken

wie sie verweilen
und weiterspringen
wie sie sich überholen
und fortschieben
wie sie sich bündeln
an Zielpunkte gelangen
festzuhalten das Tragende


Wenn du verstehst

lichtet sich Nebel
vibriert die Luft
ebnen sich Wellen
wächst Gras drüber
entspringen Sterne
deiner Stirn
wenn du verstehst


Chaos im Kopf

So viele Mauern
Tunnel Sackgassen
du öffnest dir
im Schreiben
eine Schranke
zum Licht


Tropfenweise

den Lebensbecher füllen
mit der Weisheit der Weisen
Tropfen um Tropfen auffangen
eh sie verdampfen
in der Hitze der Tage
Tropfen um Tropfen einsammeln
eh sie verloren gehen
im Treibsand der Zeit
tropfenweise festhalten
was dich wachhält
zum Weitergehen


Nichts bleibt

im Verbleiben am Fleck
alles bleibt
in der Kraft entfalteter Flügel


Wieder neu buchstabiert

die Anfragen ans Leben
die ewig jungen
in welchen Gärten
wachsen Flügel dir zu
unter welchem Himmel
wohnt der Geist der befreiende
der Scherben beiseite räumt
der Licht schaltet im Dunkel
der Menschen neu bedrängt
deutlicher zu erkennen
klarer zu sehen
was möglich auf dieser Welt


Eine Lebens-Melodie

Eine tragende

hinter dem Tag

eine tröstliche

hinter den Stunden

eine zündende

in der zerrinnenden Zeit


Raum und Zeit

wer könnt erschließen
den Raum die Zeit
wer könnt ermessen
das Unermessliche
alles bleibt offen
du erkennst den nahen
den eigenen Raum
mit den Augen
ertastest Fassbares
fest mit den Händen
dein Vorwärtsgehen
ein Schritt ins Offene
dein Blick ins Weite
in ein dunkel Unermessliches
es auszuleuchten mit Licht





Wohin führt dein Weg

im Lauf durchs Leben
wohin zieht dich der Fluss
forteilender Stunden
wohin treibt dich der Wind
wegweit voran
wo hältst du an
auszumachen das Ziel
gradwegs im Heute


Blick aus der Einsiedelei

der andere Blick
auf das Geschehen der Welt
die Dinge laufen laufen davon
das Leben geht weiter
ohne dich über dich hinaus
so scheint es
doch der Blick aus der Einsiedelei
der andere Blick
holt Fortlaufendes ein
er bündelt er deutet
bringt auf den Punkt
hält fest im Auge
was nicht zu halten


Heute

gelassener werden
beim Sticheln am Saum
der eigenen Zeit
im Nadel- Fadenspiel
neue Fäden ziehen
vielleicht ein paar
Sternfäden finden
dir einzufangen
ein Stück Himmel


Dein Platz

zwischen Tür und Angel
immer im Aufbruch
zwischen Gestern und Heute
immer unterwegs
zwischen Tag und Nacht
halb träumend halb wach
dein Platz ein Leben lang
zwischen Heute und Morgen
zwischen Himmel und Erde
festen Fußes flügelleicht
anzukommen bei dir


Poesie

Ein Spiel
auf stimmigen Saiten
auszuhalten das Unstimmige
einzufangen das Tröstliche
Sterne zu säen ins Dunkel
Sterne zu pflücken
am Rande des Tages


Was heißt stimmig sein

in einer unstimmigen Zeit
wem gelingt es
den Horizont einzubetten
tief in sein Wesen
auszuhalten
die wetterwendische Welt
frei zu werden
von Fesseln die schnüren
dazustehen stimmig im Raum


Immer wieder

verlierst du dich
findest dich wieder
wachst auf reibst dir die Augen
immer wieder
fällt du aus allen Wolken
rätselst an dir und dem Leben
wagst wieder Mut zu fassen
wie lange noch und immer neu
steigst du wie Phönix
aus der Asche
schüttelst den Staub
von den Flügeln


So viele Welten

in der einen Welt
so viele Schicksale
unter dem einen Himmel
so viele Puzzelteile
im ewigen Spiel des Lebens
wo ist Anfang wo ist Ende
wo ist dein Platz
aufgehoben
im Gefüge aller Welten


(Ein Gedenken)
Die Zeit mit Dir

voll Licht und Lachen
voll Sonne und Meer 
weit unterwegs an Stränden der Zeit
unsere Rast hinter dem Tag
buchein buchaus
dein Pinselstrich
in Farbe zu setzen die Welt
mein Wortspiel zu enträtseln
den Gang der Dinge
die Zeit mit Dir
wie ein Märchen
auferstanden
aus deinem Verstummen


Wohin

mit der Glut
die übriggeblieben
sie züngelt fort
neue Feuer zu entfachen


Eine Sprache finden

die dich befreit
wie Gesang
wie Gebet


Zwischen Ebbe und Flut

die Jahre im Auf und Ab
die Tage und Stunden
im Steigen im Fallen
Schübe nach vorn
und Schübe zurück
die Flut die Springflut
die Sturmflut die Ebbe
du verharrst
gehst suchend durch Sand
setzt neu dein Boot aus
ins ansteigende Meer
hisst die Segel im Wind
machst klar Schiff
weiterzukommen
an ersehnte Küsten


(Ein Wort wirkt Wunder
ein Lachen steckt an
ein warmer Blick lässt wintertags
Rosen erblühen)


Das war der erste Teil meiner Lesung:
Aus Gedanken Feuer schlagen, den ich zum Abschluss
noch mit einer 2. Zeile ergänzen möchte.

Aus Gedanken Feuer schlagen
mit warmer Stirn zu trotzen der Kälte

Und jetzt eine kleine Atempause - zum Erholen und zum Gespräch?






Bevor ich Sie dann im 2. Teil der Lesung in Urlaubstage mitnehme,
hören wir wieder das vorjährige
kleine Harfen-Zwischenspiel

Harfenmusik und zweiter Teil:

Wo die Philosophie aufhört
muss die Poesie anfangen

Dieser Gedanke ist für den
Literaturwissenschaftler Li Jiang der Schlüssel
zu Gottfried Benns Gedichten. Er wählte ihn zum Titel
seiner Dissertation 2003 in Berlin,

Wo die Philosophie aufhört
muss die Poesie anfangen

Die Poesie am Ende
des Wissens, Denkens, Forschens?
Meint er das?

Das Erahnen - Ertasten einer
anderen Wirklichkeit?

Die Welt der Poesie - der Religion,
der andere Blick auf das Leben?


Der Flügel Poesie

 ein Kopf zu erkennen das Ziel
zwei Füße zu durchforsten
die Weite der Welt
zwei Hände zu hüten das Heil
ein Herz aufzufangen
den Fluss der Dinge
ein Flügel Poesie
Unfassbares zu erfassen im Fliegen


Den Sommer

anwachsen lassen
über der Stirn
was brachliegt zum Blühen bringen in neuem Licht Vielleicht möchte ein einziges Wort auferstehen zum Leben
unter dem Himmel
dem einzigen


Fortgehen

wenn das Festland
dich schnürt
aufbrechen
mit der Brandung
neu ankommen
fesselfrei


Die Pause

Zeit zum Atemholen
im Versteck zum Verweilen
hinter dem umtriebigen Tag
ein Buch das mich bannt
eine Laube die lockt
eine Rose zum Reden
ein Bild das mir Brücken baut
zu anderen Ufern
leichtfüßig weiter zu wandern
auszumachen was  bleibt


Unterwegs sein

das ist es doch
per pedes per Rad
per Bahn per Flugzeug
per Kopf in ferne Zonen
zu finden was unauffindbar
jenseits der Grenzen
deiner selbst


Auf Reisen

trabt der Kopf dir
davon ins Blaue
die Luft zu füllen
mit Schwärmen
losgelöster Gedanken
erst am Ziel
sammelst du ihn wieder ein
holst Gedankenschwärme
heim ins Netz


So viel Spannung

hinter der Stirn
wie viel Volt
hält dich wach
zum Weitergehen


Mein Reisetag

eingetaucht in Sonne
in den Taschen
mein Trödel
Tagschmuck
und Nachtkleid
für unterwegs


Eine Insel

entdecken
die dir großmütig
den Himmel freigibt


Meine Insel

Fixpunkt im Meer
auch Menschen
können Insel sein
ein Gesicht
ein Haus
ein Raum
ein Garten

Du


Immer neu

ankommen
und wieder aufbrechen
Fußwege
an Stränden entlang
Pulsschläge
im Gleichtakt mit Wellen
Schaumträume
die im Sand zerrinnen


Es ist gut

barfuß zu gehen
sich fußfest
einzudrücken
in die ziehende Zeit
Sand zu spüren
zwischen den Zehen
Sand zu bewegen
im Wettlauf
mit wütigen Winden


Am Abend

wir wollten
den Mond einfangen
Du und ich
ihn zwischen die Zweige
unserer Tanne setzen
wo er weilte im Jahr zuvor

so sehr wir uns mühten
er ließ sich nicht
rückwärts rücken
auf den Platz
vergangener Tage


Gegenüber

auf dem Flachdach
liegt wieder wie eine Kugel
der Mond
du möchtest ihn anstoßen
mit mir das Mondspiel spielen
nach einem Tag voll Sonne
doch du weißt
ungreifbar ist Glück


Wenn die Insel

Anker wirft zur Nacht
wenn die Konturen schwinden
letzte Schimmer ins
Schilfgras fallen
Häuser verschwimmen
zu Lichtpunkten
Steine aufleuchten
wie von Zauberhand
wenn der Himmel im Schwarz
einen Sternteppich knüpft
rund um die Insel
wird es märchenhaft am Meer
wird dein Blick geschärft
für die Traumhälfte
des Seins


Nie endet

der Schöpfungstag
stumm das Meer
groß und gelassen
Mutter aller Flüsse
fortdrängender Fragen

nie endet der Schöpfungstag
wo Ende scheint
wird Neubeginn
wo Nebel fallen
da fallen Tränen
ins Meer


Im Strandkorb

dieser Schlaf
wie ein Schlaf
in der Wiege
des Glücks
dieses Erwachen
wie ein Erwachen
zur Welt
wie ein Anbeginn


Am Meer

dem Gedicht
eine Heimat geben
wo es wächst
aus dem Wasser
zu Ufern schlägt
mit spritzigem Schaum
mit Schwänen Bahnen zieht
auf schwankendem Grund


Zaungast

mit silbernen Bändern
schmückt sich das Meer

mir scheint es feiert
ein Fest mit der Sonne

mag sein
es feiert sich selbst

sein Geheimnis
die Dauer
verloren als Zaungast
steh ich am Ufer


Wolkenzüge

Wie sie fortziehen
windgetrieben
weiß und dunkel
einzeln und in Formationen
Bilder zu werfen
an das Gewölbe des Himmels
sich spurenlos aufzulösen
im sprachlosen All

Menschenzüge
wie sie fortziehen
windgetrieben
dunkel und hell
einzeln und in Massen
Bilder zu werfen
auf das Rund der Erde
sich spurentief einzumischen
in den Fortgang der Welt





Wieder daheim

bleibt dir lange noch
im Gedächtnis das Meer

bleibt dir unverloren
hinter
den Steinfassaden der Stadt

bleibt dir gegenwärtig
im horizontarmen Alltag
als schäumender Impuls

aufzumischen den Boden
unter den Füßen


Der neue Tag

möcht singen am Morgen
zu vertreiben die Sorgen
möcht springen lernen
über meinen Schatten
möcht am Schopf fassen
die gute Gelegenheit
möcht mir aufs Dach
steigen können
möchte das Anfangen üben
um Lösungen zu finden

möcht mir beim Weitergehen
nicht selbst im Wege stehen


Und nun zum guten Schluss noch ein Reimgedicht
zu einer erlebten Situation am Strand

Ein Nachtrag zum Schmunzeln:

Zwei Knaben im Boot
paddeln ohne Not
kreuz und quer übers Meer
da stehen zwei Damen

ganz versonnen - keine Nonnen -
sie schauen gerne in die Ferne
bleiben oft stehen
mitten im Gehen
fangen des Treibens Lauf
mit wachen Augen auf
entdecken die Knaben
die sich genähert haben
freuen sich an ihrer Freude
und hören zu ihrem Leide:
Guck da:
zwei Eulen haben uns im Visier - bloß fort von hier!



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mit freundlicher Genehmigung von Elisabeth Wegerle, Hamburg:

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